: A New Beggar's Opera (1969) :
 
Musiktheaterstück für Klavier und variables Ensemble
 

Eine spärlich ausgeleuchtete Bühne, fast wie ein verrauchter Keller (Bitte lassen Sie nicht nur eine Deutung zu; dem Publikum sollten andere Interpretationen der Szenerie erlaubt sein).

Die „Bettler“ sind – einige davon einzeln oder in kleinen Gruppen sitzend – über die Bühne verteilt. Fast in der Mitte, aber eher linkseitig, befindet sich ein meterhoher Müllhaufen, aus wertlosem Material, wie kaputte Möbel oder Musikinstrumente (eine zerbrochene Gitarre, eine Trompete, Bruchstücke elektronische Geräte u.s.w.) in desolater Zufälligkeit angeordnet.

Einer der Schauspieler nähert sich dem Haufen und fängt an, lustlos den Schrott zu durchstöbern. Er versucht, die Einzelteile eines Instruments zusammenzusetzen. Mit seinen ersten Tönen wird die Stille gebrochen. Diese erwecken in seinen Kollegen ein – allerdings eher müdes – Interesse. Sie ahmen den Spieler nach, nur um die Zeit totzuschlagen und somit ihrer Langeweile wenigstens für einen Moment zu entkommen.

Das Spiel wird immer unterhaltsamer; aus dem Versuch heraus, immer „präsentere“ Klänge aus den improvisierten Instrumenten herauszubekommen, entsteht ein vehementer Wettbewerb der Spieler untereinander. „Charaktere“ kristallisieren sich heraus: Der Bessere, der Ehrgeizigere, der Fähige, der Herrschende, den der Versuch unternimmt, den Verlauf zu bestimmen, die anderen zu „dirigieren“, usw. Nach kurzer Zeit beginnen die Bettler, für solch miserable Überbleibsel einer gefallenen musikalischen Kultur zu kämpfen. Ihr chaotisches, zunehmend aggressiverer Treiben, das parallel einer extremen musikalischen Klimax verläuft, führt zu einem Desaster: Der gründlich durchwühlte Abfallhaufen bricht unter dem Druck mit einer großen Staubwolke (eine Schwefelwolke, vielleicht?) zusammen und bewirkt einen Kurzschluß. BLACK OUT.

Während sich die anderen Bettler von ihrem Schreck erholen, sagt einer von ihnen (der Gewissenhafte) mit unpathetischem aber leicht missbilligendem Ton: -„Kurzschluß!“- Bewegungen in der Dunkelheit. Jemand zündet ein Streichholz an: der Virtuose steht bewegungslos im Frack. Fragen. Kurze Rufe. Der Erfinder repariert kommentarlos den Schaden: Licht.

Nachdem der Virtuose seinen makellosen Frack entstaubt hat, verbeugt er sich zum Publikum. Mit einem knappen maßgebenden Handzeichen befiehlt er zwei Assistenten, einen nagelneuen, glänzenden Steinwayy-Flügel auf die Bühne zu schieben. Dann beginnt er zu spielen. Kristallklare Tonkonstellationen aus den guten Tagen der Seriellen Musik durchdringen sowohl das Publikum als auch die verblüfften improvisierenden Bettler, die im Vergleich zu dem Konzertpianisten mehr denn je „Bettler“ sind. Sie sollen gezeigt bekommen: So hat Musik heutzutage zu klingen.

Aber die Neugier ist stärker als Respekt oder Angst. Einer nach dem Anderen nähern sich die Bettler dem Klavier, und der Kühnste von ihnen erlaubt sich sogar mit dem neuen Spielzeug zu spielen (= die Klaviersaiten zu präparieren). Seine Tat ermutigt die anderen. Zum Entsetzen des Virtuosen entsprechen die perfekten makellosen Anschläge nach und nach nicht mehr den erwarteten, „seinen“ Tönen. Obwohl er sich der Präsenz der Bettler nicht bewusst ist, treibt ihn das Ergebnis ihrer Aktion zum Wahnsinn. Schockiert von den ungewollten „neuen“ Tönen, beschränkt er sein Spiel auf die Tasten, die noch „natürlich“ klingen. (Ästhetisch betrachtet ist dies eine Referenz auf eine in den 60en Jahren neue musikalische Form: die Minimal Music, die, mit ihren sich ständig wiederholenden Patterns bald ab den 70en schon fast in einer neuen Form von Akademismus sich entwickelte).

Der Virtuose schwitzt. Make-up läuft sein ganzes Gesicht herunter bis auf sein weißes, gestärktes Hemd. Die Perücke ist verrutscht, die Fliege locker. Die Bettler triumphieren. Das Innere des Flügels ist eine Mischung aus Haushaltwarenladen und Musikinstrumentengeschäft. Über den ganzen Bereich der Bespannung sind zwischen den Saiten Bündel von Bogenhaaren eingefädelt, die von den Bettlern mit kraftvollen Bewegungen vor-und zurückgezogen werden und Sostenuto-Klänge entstehen lassen: das Klavier und gleichzeitig der Raum übernehmen die Funktion eines gesamten Streichapparats. Die Klaviersaiten, die noch frei von Bogenhaaren sind, werden mit allerlei Arten von Instrumentarien gekratzt, gezupft, geschlagen.

Vom Resonanzboden des Flügels werden lange Drähte („Saiten“) über die Bühne gespannt und an den Seitenwänden festgemacht: Der ganze Raum wird selbst zu einem riesengroßen Streichinstrument.

Die Bettler gewinnen immer mehr Selbstbewusstsein. Sie wissen, dass ihre Installation „anders“ als andere Musik klingt, aber genauso wertvoll ist. Während sie spielen, hören sie einander immer mehr zu: Ihre Motivation ist nicht mehr negativer Qualität. Sie entwickeln einen äußerst feinen Kontrapunkt, eine komplexe Textur mikrotonaler Frequenzen, die mehr auf Nuancen beruht als auf Kontrasten.

Der Virtuose ist zerfleddert, sein Spiel ist aus. Wie eine leblose Puppe setzen die Bettler ihn in eine Ecke. Er ist ein Bettler unter Bettlern: diese bewundern ihn nicht mehr, sie ignorieren ihn. So ruhig sie ihr Stück beendet haben, so ruhig lassen sie ihn allein zurück.

Der ideale Aufführungsort für A NEW BEGGAR’S OPERA wäre in Berlin ein Ort wie das Hebbel Theater. Die variable Besetzung des Werkes, in angemessener Weise, wären von (?) insgesamt acht Schauspieler/Musiker, unter denen ein Konzertpianist und möglichst eine Vokalistin, sein sollten. Unter anderen Bühnenrequisiten wäre ein gebrauchtes Konzertflügel erforderlich; gut getarnt, wie ein nagelneues Instrument aussehend. Auf alle Fälle, die Präparierungen und die notwendigen musikalische Aktionen werden nicht die geringsten Schäden an dem Instrument verursachen.

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